In einem ausführlichen Artikel beschäftigt sich Robert Enz mit dem Verhältnis zwischen Agile und Lean und geht auf die Parallelen in ihrer historischen Entwicklung ein. Wir stellen eine gekürzte Fassung vor; den vollständigen Text finden Sie hier
Der Ursprung von Lean und Agile
Der Eindruck lässt sich nicht vermeiden, dass Lean heute oft zugunsten von Agile verdrängt wird – „Advantage Agile“ also. Doch gibt es da wirklich einen so großen Unterschied oder wird nur ein neuer Name in ein neues Kleid verpackt? Schließlich gehen sowohl Lean als auf Agile ursprünglich auf das Toyota Production System (TPS) zurück, das zwischen 1948 und 1973 von Taiichi Ohno unter Mitwirkung des amerikanischen Physikers W. E. Deming entwickelt wurde. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass die Ende des 20. Jahrhunderts daraus inspirierten Konzepte Agile und Lean den Übergang von der Industrie- zur Kompetenzgesellschaft begleiteten.
Die Konsequenzen dieses grundlegenden Wandels sind nicht zu unterschätzen. Das Zeitalter der Industrialisierung baute auf Märkten, die nach Gütern dürsteten, einer ungebildeten Arbeiterschaft, Massenfertigung und kollektiver Ausbeutung. Kunden wie Arbeiter hatten wenig zu melden und der vorherrschende Führungsstil basierte auf Kontrolle, Disziplin und einer strikten Hierarchie – der bekannten Pyramide, die in vielen Unternehmen bis heute überlebt und katastrophale Folgen hat.
Menschen und Systeme verändern sich
Denn sozio-ökonomische Systeme, die die Bedürfnisse des Menschen ignorieren, überholen sich früher oder später selbst. Über die Jahrzehnte erkämpfte Errungenschaften wie Sozialversicherung, Gewerkschaften, sozialistische und sozialdemokratische Parteien, Achtstundentag sind noch heute Gerüst unserer Wirtschaftsordnung.
Doch auch strukturell hat sich einiges verändert: Märkte wurden komplexer, Kundenbedürfnisse spezifischer, Produkte technisch anspruchsvoller, Arbeit qualifizierter, die Industriegesellschaft entwickelte sich zur Dienstleistungsgesellschaft; heute dominiert die Techbranche die Welt. Kurzum: Immer mehr Menschen arbeiten mit dem Kopf, immer weniger mit den Händen.
Industrielle Zeitenwende
In diesem veränderten Umfeld fielen Ohnos Ideen auf besonders fruchtbaren Boden, denn ohne die Expertise und das Know-How der Angestellten gibt es selbst am Fließband keine kontinuierliche Verbesserung. Es folgte eine industrielle Zeitenwende: Konsequente Kundenorientierung, Pull-Produktion, One-Piece-Flow, Just in Time, Kanban, Mass Customization, Kaizen. Vor allem aber: Die Verheiratung des Industriekapitalismus mit dem Humanismus. Der Übergang von einem das Individuum und dessen Bedürfnisse verachtenden System zu einer sozio-ökonomischen Ordnung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt: No Layoff-Policy, Führung als Dienst am Mitarbeiter, partnerschaftliche Kollaboration, Förderung des Mitarbeiters in der Entfaltung seiner höchsten Fähigkeiten, Sinn und gesellschaftliche Verantwortung anstelle des Profits um des Profits willen.
Der Mythos „Toyota“
Dieser ethische Kapitalismus machte Schule und Toyota wurde weltweit zum Mythos. Der Konzern genoss unglaubliche Kundenloyalität, enge Verbindungen zu Lieferanten und einen unvergleichlichen inneren Zusammenhalt, und natürlich enorme Gewinne. Das so erfolgreiche TPS wurde von James Womack und Daniel Jones in den 90ern unter dem Titel „Lean“ terminologisch globalisiert.
Doch westliche Führungsetagen ignorierten bei der fleißigen Umsetzung einen wichtigen Aspekt des Systems: den Respekt vor dem Menschen („Respect for Humanity“). Damit verkehrten (und verkehren!) sie Lean ins exakte Gegenteil seiner Idee. Verhandeln Lieferanten an den Rand der Insolvenz, drücken Personalkosten, hinterziehen Steuern, täuschen Kunden, faken Umweltbilanzen, bestechen Betriebsräte, überwachen Mitarbeiter. Mit anderen Worten: Opfern systematisch die Interessen der Stakeholder dem auch nur kurzfristigen Nutzen des Shareholders.
Entsprechend unbeliebt ist dieses fake „Lean“ bei Belegschaften, und bald erkennt auch das Management, dass selbst mittelfristig keinerlei wünschenswerte Ergebnisse eintreten.
Agile auf dem Spielfeld
Ein neuer Heilsbringer muss also her – Agile betritt das Spielfeld. Doch wer genauer hinschaut, erkennt schnell, dass Agile wie Lean (und andere Continuous Improvement-Ansätze) alle in den gleichen Werkzeugkasten greifen. Sie bauen auf dieselben, dem Toyota Production System entlehnten Werte, Prinzipien und Techniken. Das sind Respekt vor dem Menschen, Transparenz, Flow, Servant Leadership, Grundursachenanalyse, lebenslanges Lernen, gemeinsame Verantwortung und viele mehr. Keiner dieser Ansätze kann isoliert, ohne Bezugnahme auf die anderen in Anwendung sein.
Der Umstand aber, dass Managements zwischen Lean und Agile eine willkürliche Linie ziehen und hieraus Handlungen – meist politisch motivierte Silo-Initiativen – ableiten, führt auf eine grundlegende Dysfunktion pyramidaler Organisationen in der Kompetenzgesellschaft: Know-how und Entscheidungsbefugnisse liegen nicht mehr am selben Ort. Das erschwert den Experten nicht nur chronisch die Arbeit, sondern führt auch zu systematisch schlechten Ergebnissen.
Die neue Rollen des Managements
Stattdessen muss – ganz im Sinne des Servant Leadership – das Management erst lernen, zurückzutreten und den (wahren) Experten den Weg freizuräumen. Seine Rolle ist es, etwaige Hindernisse, von den Experten identifiziert, proaktiv zu beseitigen. „Shareholder Value“ kann kein Selbstzweck sein. Stattdessen muss sich das Unternehmen auf Angestellte, Kunden und Produkte konzentrieren. Schließen wir noch Lieferanten, Umwelt und Gesellschaft in diesen Kreis ein, dann ist ein später, aber hoffnungsvoller Anfang gemacht.
Wenn Absprachen oder Vereinbarungen nur schleppend oder gar nicht umgesetzt werden, dann folgt der Unzufriedenheit die Ursachensuche. Man will wissen: WARUM funktioniert etwas nicht wie vereinbart? Weshalb es sich lohnen kann, stattdessen nach der Machtbalance und ihren Auswirkungen zu fragen, das erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.
„Am Ende eines Gesprächs steht immer ein Vertrag“. – Dieses Credo wird in vielen Führungstrainings vermittelt, ist nachzulesen in Büchern zu Management und Gesprächsführung und klingt nach einem probaten Erfolgsrezept. Hellhörig werde ich, wenn sich Befürworter dieses Credos häufig über das Danach, also die Umsetzung durch die andere Seite beklagen: Es gehe nur langsam voran oder Vereinbartes würde lediglich mit Abstrichen realisiert.