Gastbeitrag von Rudolf Burkhard
Auf der TOCICO-Konferenz im Jahre 2006 stellte Dr. Alan Barnard die Frage, ob die simple Regel, mit „Durchsatz pro Engpasseinheit“ zu rechnen, auch bei zwei (oder mehr) überlasteten Ressourcen noch Gültigkeit hätte. Er griff dabei auf Eli Goldratts „P-Q Gedankenexperiment“ zurück. Dies ist meines Erachtens eine wichtige Frage, denn Unternehmen reduzieren häufig „überschüssige“ Kapazitäten, um eine (fast) gleichmäßige Ausnutzung der Ressourcen zu erreichen. Dadurch kommt es oft zu zwei oder mehr gleichzeitigen Engpässen oder Fast-Engpässen. Seit 2006 habe ich mehrere Werke beobachten können, die sich wunderten, wieso ihre Leistung unter die theoretischen Kapazitäten ihrer (so gut wie) gleichmäßig ausgelasteten Produktionslinien sank.
Im Folgenden möchte ich anhand des gleichen P-Q Experiments darlegen, dass die Regel „Durchsatz pro Engpasseinheit“ auch bei mehreren Engpässen weiterhin gültig ist. Zudem möchte ich diese Erkenntnis auch im realen Kontext besprechen – wie sollen Unternehmen ihre Ressourcen-Kapazitäten effektiv steuern.
Ich möchte meine Leser ermutigen, die Regel Eli Goldratts zu befolgen, dass sie die dargestellten Probleme für sich selber lösen, bevor ich die Lösung gebe und durchgehe. Das führt zu einer bedeutend besseren Lernerfahrung und ermöglicht den Lesern, meine Schlussfolgerungen kritisch zu analysieren. Falls Ihnen das Gedankenexperiment schon bekannt ist, können Sie gleich zum zweiten Teil dieses Artikels übergehen. Dieser erscheint am 28. März.
Ganz am Ende kommt der wahrscheinlich wichtigste Teil des Artikels, wo die Lösung aus dem P-Q Gedankenexperiment im Bezug zur realen Welt besprochen wird. Manager sollten sich durch das Experiment nicht zu vereinfachten Lösungen verleiten lassen. Das Tool ist hilfreich, doch soll es mit Bedacht und Sorgfalt eingesetzt werden.
Das Original P-Q Experiment
Goldratt setzte dieses Experiment oft in seinen Vorträgen ein. Davor stellte er meist erst seine Fünf-Fokus-Schritte vor:
1. Identifiziere den Engpass.
2. Entscheide, wie der Engpass optimal ausgenutzt werden soll.
3. Ordne alles andere dieser Entscheidung unter.
4. Wenn aus dem Engpass nichts mehr herauszuholen ist, erweitere ihn.
5. Wenn sich der Engpass verschiebt, beginne den Prozess von vorn. Trägheit darf nicht zum Engpass des Systems werden!
Das P-Q Unternehmen
Dies ist mein hypothetisches Unternehmen. Ich habe Sie eingestellt, um meine Gewinne mit den bestehenden Ressourcen zu maximieren. Wir gehen von folgenden Annahmen aus:
1. Ich habe 4 Maschinen (A, B, C und D). Alle 4 werden eingesetzt, um meine beiden Produkte P und Q herzustellen.
2. Es gibt 40 Produktionsstunden pro Woche (1 Schicht). (40 Stunden sind 2400 Minuten.)
3. Produkt P hat einen Verkaufspreis von €90 pro Stück und Produkt Q, €100.
4. Die wöchentliche Nachfrage beträgt 100 Stück für P und 50 Stück für Q – wenn mein Werk alle 150 Produkte herstellen kann, wird der Markt sie kaufen.
5. Die Herstellung von P braucht Rohmaterialien 1 und 2 sowie ein Zukaufteil (je 1 von allen 3).
6. Die Herstellung von Q braucht Rohmaterialien 2 und 3 (je 1 von beiden, kein Zukaufteil).
7. Alle Rohmaterialien kosten €20/Stück. Das Zukaufteil kostet €5/Stück.
8. Die Betriebskosten (alle Kosten außer Rohmaterialien und Zukaufteil) betragen €6000/Woche.
9. Rohmaterialien sowie Zukaufteile sind jederzeit erhältlich.
10. Alle Aufrüstzeiten sind augenblicklich (nehmen keine Zeit in Anspruch).
11. Alle Ressourcen sind perfekt, arbeiten 8 Stunden pro Tag ohne Pausen.
12. Die Herstellungsqualität ist perfekt, keine Verluste durch defekte Teile oder Produkte.
13. Die untenstehende Grafik zeigt den Arbeitsplan (wie Material durch mein Werk fließt, von Rohmaterial bis fertiges Produkt). Es handelt sich dabei um den Arbeitsablauf jedes Produktes und nicht um das Werklayout. Man sieht klar, dass das Rohmaterial 2 für sowohl P als auch Q benötigt wird, ebenso wie Maschinen B und C (der mittlere Pfad).
14. Was ist der maximale wöchentliche Gewinn?
Versuchen Sie, es selber auszuarbeiten – mit ein bisschen Rechnen ist es problemlos möglich, oder Sie können lineare Programmierung benutzen. Auf jeden Fall sollten Sie argumentieren können, wieso Sie sich für die eine oder andere Option der Produktion und des Verkaufs entschieden haben. Wenn Sie fertig sind, gehen Sie zum nächsten Teil über.
Eine mögliche Lösung des Problems wird nun dargelegt.
Lösung des P – Q Experiments
Die meisten von uns „lösen“ das Problem, ohne weiter nachzudenken. Es handelt sich doch nur um eine einfache Rechenaufgabe wie in der Schule! Bei Workshops erhalten wir meist eine Reihe „falscher” Antworten – entweder aufgrund einfacher Rechenfehler, oder fehlerhafter Logik. Hier die Lösungen, die auf fehlerhaftem Denken beruhen, sowie die Erklärung zur „richtigen“ Lösung.
Versuch 1:
Viele Leute prüfen nicht, ob mein Werk überhaupt ausreichende Kapazitäten hat, um alle Ps und Qs herzustellen: sie identifizieren den Engpass nicht. Diese Leute (wenn sie nicht noch zusätzliche Rechenfehler machen) kommen auf die unten aufgeführte Lösung – €1500 Gewinn/Woche. Wen es so einfach wäre, warum würde ich dann einen Berater hinzuziehen? €1500 ist gar nicht möglich – wegen des Engpasses.
Also lassen Sie uns “den Engpass finden“! Die Tabelle unten identifiziert ihn. Sie können die Zahlen anhand der Routing-Abbildung weiter oben überprüfen.
Hier wird offensichtlich, dass Maschine B nicht alle notwendigen Komponenten für P und Q herstellen kann (zur Erinnerung: eine Woche hat 2400 Minuten). Nun müssen wir also entscheiden, wie viele Ps und wie viele Qs wir produzieren können (den optimalen Mix), um den Gewinn zu maximieren. B ist der Engpass und in diesem Fall auch ein Flaschenhals.
Die Leute, die den Engpass korrekt identifiziert haben, fragen nun meist „können wir eine weitere Maschine kaufen?“ oder „können wir Überstunden machen?“ Doch für unser Experiment gehen wir davon aus, dass das nicht möglich ist: unsere Aufgabe ist es, mit den bestehenden Ressourcen den Gewinn zu maximieren. Wenn wir die Kapazitäten durch Überstunden oder eine weitere Maschine erweitern, überspringen wir Schritte 2 und 3 der Fünf-Fokus-Schritte.
Schritt 2 ist es, zu entscheiden, wie wir den Engpass (unseren Flaschenhals) ausnutzen. Die meisten Leute – von Schülern bis zu Geschäftsführern – werden einen oder mehr der folgenden Schritte durchlaufen, um zu prüfen, welches Produkt rentabler ist und daher am Engpass Vorrang haben sollte:
1. Welches Produkt hat den höheren Verkaufspreis? Q (€100, gegenüber €90 für P)
2. Welches Produkt hat den höheren Deckungsbeitrag (Durchsatz)? Q (€60, gegenüber €45 für P)
3. Welches Produkt ist weniger aufwändig zu produzieren? Q (50 Minuten, gegenüber 60 für P)
Laut dieser 3 Kriterien wäre Q die bessere Wahl, entsprechend entscheiden sich die meisten Leute für Q als das rentablere Produkt. Wir sollten also alle absetzbaren Qs produzieren (50) und anschließend die verbleibende Engpass-Kapazität mit P auffüllen.
Verkaufen wir 50 Qs, dann benutzen wir 1500 Minuten der Kapazität von B (2 x 15 Minuten pro Stück x 50 Stück). Uns bleiben also 900 Minuten B-Kapazität – genug für 60 Stück von P. Die Tabelle zeigt unsere Einnahmen:
Sieht nicht so gut aus! Obwohl wir die üblichen Checks der Produktrentabilität durchgenommen haben, fahren wir Verluste ein. Gibt es vielleicht einen besseren Weg, zu entscheiden, was wir herstellen sollen?
Wir haben den zweiten der Fünf-Fokus-Schritte nicht richtig angewandt. Die drei Parameter, die wir geprüft haben, haben nichts damit zu tun, wie wir die Engpass-Maschine B am besten ausnutzen. Vielleicht sollten wir besser die Frage stellen: wie lange braucht B, um €1 Durchsatz zu generieren? Wie viele Minuten von B braucht jedes unserer beiden Produkte, P und Q, um €1 Durchsatz zu generieren?
Der Durchsatz von Q ist €60 / Stück. Für diesen Durchsatz benötigen wir 30 Minuten an B. Mit Produkt Q produziert unser Engpass B €2 Durchsatz pro Minute, entsprechend braucht B mit Produkt Q 30 Sekunden, um €1 zu produzieren.
Der Durchsatz von P ist €45 / Stück. Für diesen Durchsatz benötigen wir 15 Minuten an B. Mit Produkt P produziert unser Engpass B €3 Durchsatz pro Minute, entsprechend braucht B mit Produkt Q nur 20 Sekunden, um €1 zu produzieren.
Sollte also unsere Entscheidung nicht sein, das Produkt herzustellen, das uns am meisten € pro Zeiteinheit an der Maschine B liefert (nämlich dem Engpass, der unseren Durchsatz einschränkt)? Anders formuliert, sollten wir nicht das Produkt herstellen, mit dem B in der kurzmöglichsten Zeit €1 erarbeitet? In dem Fall müssen wir also 100 P und 30 Q produzieren (100 P brauchen 1500 Min. der B-Kapazitäten, womit 900 Min. für Q bleiben. 30 Minuten pro Stück = 30 Stück). Die Tabelle zeigt das Ergebnis:
Sieht aus, als hätten wir eine gute Regel gefunden, um zu entscheiden, was wir verkaufen sollen, wenn wir einen Flaschenhals haben. Durchsatz pro Engpasseinheit sagt uns, welches Produkt wir bevorzugen sollen – wobei unsere Kunden und der Markt uns möglicherweise daran hindern, das theoretische Maximum zu erreichen.
Funktioniert dies auch bei mehreren Engpässen? Dieser Frage gehen wir im nächsten Teil dieses Artikels nach, der ab 28. März hier erhältlich ist.