Im ersten Teil dieses Zweiteilers erläuterten wir, weswegen Flow für jedes Unternehmen Hauptziel sein soll und stellten die vier Flow-Konzepte von Dr. Eliyahu Goldratt vor. Nun aber werden sie von Dr. Barnard hinterfragt und erweitert.1
Wo bleibt der Engpass?
Für Anhänger der Theory of Constraints drängt sich schnell eine Frage auf: wo bleibt in den vier Flow-Konzepten der Engpass? Die Flow-Konzepte stehen regelrecht im Gegensatz zu den bekannten Fünf-Fokus-Schritten, die hier im Blog auch schon mehrmals angesprochen wurden. Dort lautet der erste Schritt: Identifiziere den Engpass. Doch dieser findet in den Flow-Konzepten nicht mal Erwähnung. Wo setze ich denn nun bei meiner Verbesserungsinitiative an? Führe ich Mechanismen ein, um Überproduktion zu vermeiden und den Flow zu verbessern? Oder identifiziere ich als erstes den Engpass?
Hier warnt Dr. Barnard, dass ein Scheuklappenblick auf den Engpass zu fehlerhaften Entscheidungen führen kann. Sicher, jedes Unternehmen hat einen Flaschenhals. Doch dieser muss nicht zwangsweise der bedeutendste Faktor sein, der den Flow beeinträchtigt. Oft sind es Manager-Fehler wie desynchronisierte Prioritäten, zu große Losgrößen oder falsche Zuordnung der Ressourcen, die weit mehr Schaden verursachen (den Flow mehr stören), als der Engpass es tut. Dr. Barnard empfiehlt also den ganzheitlichen, unvoreingenommenen Blick auf die Funktionsweisen jedes Unternehmens, ohne sich zu sehr in einen bestimmten Faktor zu verbeißen. Dies widerspiegelt, was auch schon Eli Goldratt wusste: „Sage niemals, ‚Ich weiß‘.“
Vom Konzept zur Praxis
Diese offene Einstellung ist sehr wichtig, wenn man als Berater in ein neues Unternehmen kommt. Denn wie Dr. Barnard in seinem Vortrag erklärt, ist ein Konzept (selbst eines, das sich wiederholt in der Praxis bewiesen hat) nicht gleichzustellen mit der praktischen Anwendung. Jedes System ist leicht anders – auch wenn in den unterschiedlichen Umgebungen meist sehr ähnliche Prinzipien gelten. „Bei uns funktioniert das aber nicht“ ist denn auch einer der häufigsten Einwände, den externe Berater zu hören bekommen.
Erschwerend kommt dazu, dass die menschliche Intuition ab einem gewissen Komplexitätsgrad nicht besonders gut darin ist, konkrete Vorhersagen zu treffen bezüglich der Auswirkungen einer Maßnahme. So sind die optimalen Schritte zur Verbesserung des Flow oft nicht intuitiv. Dass die Reduzierung des Work in Process zu mehr Durchsatz führt, erscheint auf den ersten Blick sicher nicht schlüssig. Umso schwerer ist es, ein Unternehmen von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu überzeugen: die Umsetzung scheint riskant! Und wie wir wissen, ist es für die Motivation der Mitarbeiter sehr wichtig, dass die ersten Veränderungsschritte zu spürbaren Verbesserungen führen.
Die Frage stellt sich also: wie können bewiesenermaßen funktionierende Konzepte effizient umgesetzt werden, während gleichzeitig die spezifischen Umstände eines Unternehmens berücksichtigt werden? Dr. Barnard unterstreicht: wichtig ist es auch als erfahrener Berater, stets mit offenen Augen und unvoreingenommen die neue Situation zu beurteilen. Die häufige Annahme, dass Überproduktion der Hauptfehler ist, der den Flow beeinträchtigt, mag zwar in den meisten Situationen zutreffen. Doch das muss nicht zwingend so sein. Daher ist es ausschlaggebend, die Situation im jeweiligen Unternehmen genau zu analysieren.
Erweiterung der vier Flow-Konzepte
Dr. Barnard möchte also die vier Flow-Konzepte etwas weiter, allgemeiner fassen, um jeder Situation gerecht zu werden.
- Aufnahme anderer praktischer Mechanismen, die notwendig sind, um andere Entscheidungsfehler zu verhindern oder verringern, etwa Zuordnung der Ressourcen, Einsatz der Puffer, Priorisierung, Produktion (Losgrößen, Multitasking usw.), Kennzahlen und Messgrößen sowie Verbesserungen und Investitionen.
- Klassifizierung dieser praktischen Mechanismen nach Planung, Ausführung, Messen und Verbessern (dies entspricht dem Deming-Kreis).2
Daraus ergibt sich folgende, übersichtliche grafische Darstellung, die typische Entscheidungsfehler aufgreift und entsprechende Mechanismen anbietet, sie zu beheben:
Dr. Barnard unterstreicht, dass es sich hierbei um universell gültige Fehler und Mechanismen handelt, die in jedem unternehmerischen System zutreffen. Daraus ergeben sich dann praktische Anwendungen wie etwa LEAN, Drum-Buffer-Rope oder AGILE, die auf ein spezifischeres Umfeld zugeschnitten sind.
Hier ist leicht zu erkennen, dass unser eigentliches Ziel wie schon anfangs erwähnt die Verbesserung des Flow ist: dies erlaubt es uns, die Nachfrage so effizient wie möglich zu bedienen und somit ein nachhaltig erfolgreiches Unternehmen zu führen. Die praktischen Mechanismen führen uns zu diesem Ziel.
Die notwendigen Veränderungen sind vielleicht nicht immer intuitiv. Auch können nicht bedachte Abhängigkeiten zu unerwünschten Effekten führen. Simulationen erlauben es, die Auswirkungen einer vorgeschlagenen Veränderung in einem spezifischen Unternehmensumfeld zu beobachten, bevor sie tatsächlich in der Praxis umgesetzt wird. Dr. Barnard bietet hierzu sogar eine eigene Softwarelösung an.
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1: Dr. Alan Barnard und Dr. Andrey Malykhanov: Improving effectiveness and efficiency of FLOW within any environment… What (decision rules) can make the difference?, TOCICO 2015
2: Dr. Alan Barnard und Dr. Andrey Malykhanov: Improving effectiveness and efficiency of FLOW within any environment… What (decision rules) can make the difference?, TOCICO 2015, Folie 18